Stephan Thomae

THOMAE: StPO-Reform in Betracht ziehen

Der Strafprozess ist die rechtsförmliche Reaktion der Gesellschaft auf eine Straftat. Die Nebenklage ist das im Strafprozess bedeutendste Opferschutzinstrument. Generell haben Opfer ein berechtigtes Interesse daran, im Strafprozess gehört zu werden. Es ist für die Akzeptanz der Gesetze und ihrer Anwendung durch die Gerichte natürlich von entscheidender Bedeutung, dass sich die Opfer einer Straftat im Rahmen des Strafverfahrens ernst genommen fühlen. Dies kann aus unserer Sicht nur gelingen, wenn sie rechtlich wie tatsächlich selbstbestimmt am Strafverfahren teilnehmen können. Hierzu gehört es beispielsweise auch, dass sie sich – wie auch andere Zeugen oder der Angeklagte – mit rechtlichem oder psychologischem Beistand auf die schwierige Situation der Vernehmung vorbereiten können.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass im Zentrum des Strafprozesses der Angeklagte und die ihm zur Last gelegte Tat steht. Zwar ist es für die Opfer einer Straftat und für die Öffentlichkeit nicht immer leicht zu verstehen, dass der Strafprozess nicht in erster Linie der Wiedergutmachung im Verhältnis zwischen Täter und Opfer dient; es ist aber gerade Zeichen unseres modernen Rechtsstaats, dass allein der Staat über das Gewaltmonopol verfügt und im Namen der Geschädigten und der gesamten Gesellschaft auf Unrecht reagiert. Der Ausgleich materieller und immaterieller Schäden ist Sache des Zivilprozesses, nicht des Strafprozesses.
Der Wunsch der jeweiligen Opfer nach einer Verurteilung des vermeintlichen Täters ist nachvollziehbar, darf den Strafprozess aber nicht überlagern. Im Vordergrund steht die Beurteilung der Schuld des Täters, nicht das Gerechtigkeitsempfinden des Opfers, das i.d.R. nur durch eine hohe Strafe befriedigt werden kann. Das Prinzip der Strafzumessung durch den Richter verlangt aber, dass auch Strafen verhängt werden können, wenn aus Sicht des Gerichtes im Vergleich zu anderen Fällen ein eher weniger schwerwiegender Fall vorliegt, auch wenn das Opfer im einzelnen Fall dies für sich anders empfindet.

Insofern müssen die Bedenken ernst genommen werden, dass aktive Beteiligungsrechte von Geschädigten am Strafverfahren auch die Gefahr ins sich bergen können, dass sich einerseits eine frühe Festlegung des Geschädigten als „Opfer“ auf die Unschuldsvermutung in der Hauptverhandlung auswirken kann – denn steht der mutmaßlich Verletzte als „Opfer“ fest, so lässt sich kaum noch an der Tat, sondern allenfalls an der Frage zweifeln, ob der Angeklagte auch „Täter“ war – und zum anderen, dass eine erweiterte Akteneinsicht und rechtlicher Beistand des Zeugen seine Eigenschaft als Beweisquelle beeinträchtigen können.

Die in der letzten Wahlperiode eingesetzte Expertenkommission zur StPO hatte in ihrem Abschlussbericht u.a. die Empfehlung ausgesprochen, dass dem Vorsitzenden des Gerichts im Rahmen einer Ermessensvorschrift ermöglicht werden soll, Gruppen von Nebenklägern zu bilden und diesen für die Vertretung in der Hauptverhandlung einen Gruppenrechtsbeistand beizuordnen. Die Mehrfachvertretung von Opfern lässt sich auch rechtfertigen, da die Interessen in einem Großverfahren häufig gleichläufig sind; ein einzelner Nebenklagevertreter kann daher problemlos die Interessen mehrerer Opfer vertreten. Diese, wie wir finden, gute Idee hat jedoch keinen Eingang in die StPO-Reform der Großen Koalition gefunden. Gerade wenn wir den Blick auf Großverfahren wie beispielsweise den Love-Parade-Prozess lenken, wo zahlreiche Nebenklagevertreter und Opfer zum Prozess zugelassen sind, die alle am Anfang gehört werden sollen, dann steht das in Kontrast zu dem öffentlichen Interesse einer zügigen Verfahrensverhandlung und -entscheidung.

Das NSU-Verfahren vor dem OLG München dauert inzwischen mehr als vier Jahre. Insbesondere die Verfahrensdauer ist ein großes Problem und aufgrund der beschränkten Ressourcen des Justizapparats mitverantwortlich für die Überlastung der Justiz. Vor dem Hintergrund, Strafprozesse effektiver, zügiger und praxistauglicher zu gestalten, sieht die FDP-Bundestagsfraktion deshalb noch Handlungsbedarf über die Frage der Rolle des Opfers und seiner Rechte im Strafprozess hinaus. Hier dürfen freilich nicht nur Fragen der Effektivität des Verfahrens im Mittelpunkt stehen. Es muss auch darauf geachtet werden, dass die Rechte des Angeklagten nicht beeinträchtigt werden und mit den Veränderungen des Strafprozessrechts Schritt halten.